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RedeVeröffentlicht am 15. Mai 2025

«Wer die Macht des Wortes besitzt, trägt auch die Last seiner Wirkung»

Luzern, 15.05.2025 — Rede von Bundesrat Ignazio Cassis, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) anlässlich des Swiss Media Forums - Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Damen und Herren,

Das «Swiss Media Forum – der Schweizer Medienkongress» ist das führende Treffen für Medien und Kommunikation.
Und Sie – meine Damen und Herren – sind die Spezialisten des Wortes: des geschriebenen, gesprochenen, gesendeten, geteilten und mit Bedeutung aufgeladenen Wortes.
Sie sind die Hüterinnen und Hüter der Sprache. Die Architekten des Diskurses.
Sie formen Gedanken, entfachen Debatten, prägen Weltbilder.

«Am Anfang war das Wort».

Dieser erste Satz aus dem Johannesevangelium ist mehr als religiöse Poesie.
Er ist Vermächtnis. Das Wort ist nicht nur Ausdruck, sondern Ursprung.

Und im Original heisst es weiter: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.»

Das Wort ist nicht nur Medium – sondern Macht.

Die Wahl von Papst Leo dem Vierzehnten – und seine ersten Worte an die Gläubigen der Welt – haben in mir die symbolische Kraft jedes Anfangs wachgerufen: die Kraft des Wortes.

Worte gestalten Welt.
Worte lassen handeln – Worte lassen träumen.
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu bringt es in Langage et pouvoir symbolique (1991) auf den Punkt:
«Worte sind weit mehr als blosse Kommunikationsmittel – sie sind Werkzeuge der Macht.»

Ich habe bewusst - zu Beginn meiner Rede - nur einen Teil des Mission Statements Ihres Forums zitiert.


Denn auf Ihrer Website schreiben Sie Ihre ganze Absicht unmissverständlich:
Das SwissMediaForum ist «Das führende Treffen für Medien, Kommunikation, Wirtschaft und Politik.»
Geschätzte Damen und Herren

In Ihren Händen liegt viel mehr als nur Information.
In Ihren Händen liegt die Architektur gesellschaftlicher Wirklichkeit.

In Ihrer Feder, Ihrer Stimme, Ihrem Sender liegt aber auch die Verantwortung, diese Macht mit Klugheit und Haltung zu gebrauchen.
Denn Worte können aufbauen, heilen, verbinden – aber auch spalten, verletzen, zerstören.

Wer die Macht des Wortes besitzt, trägt auch die Last seiner Wirkung. Verantwortung beginnt nicht beim Sprechen – sie beginnt beim Zuhören, beim Verstehen, beim Wägen. Und sie endet nie.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter hat an diesem Forum vor zwei Jahren ein schönes Bild gezeichnet: Vom kläffenden, vom wadenbeissenden und vom kettenklirrenden Hund, der die vierte Gewalt verkörpert – manchmal ungestüm, manchmal fehlgeleitet, aber in seiner Essenz: unersetzlich für das Funktionieren einer freien Gesellschaft.

Denn Vertrauen entsteht dort, wo Kontrolle glaubwürdig ist.

Doch was geschieht, wenn nicht nur der Hund die Orientierung verliert, sondern das ganze System?

Ich möchte heute den Blick weiten: weg von Luzern, hinaus in eine Welt, in der das Vertrauen bröckelt und die Demokratie auf dem Prüfstand steht.

2024 galt als Jahr der Demokratie:

Über vier Milliarden Menschen in 73 Staaten waren zur Wahl aufgerufen. Doch das Resultat ist ernüchternd: Keine einzige Regierungspartei konnte hinzugewinnen.

Die Wahlen wurden vielerorts zur Abstimmung über das System selbst. Der Demokratieindex ist weiter gefallen: Nur noch 6,6 Prozent der Menschheit leben in einer voll funktionierenden Demokratie.

Das Vertrauen in staatliche Institutionen sinkt heute nicht nur bei wirtschaftlicher Not, sondern selbst in Zeiten des Wohlstands.
«Es ist schwer, Verantwortungsethik zu leben in einer Zeit der Empörungsökonomie», schrieb der amerikanische Politologe William Galston kürzlich.

In einem Klima, in dem Polarisierung Klicks generiert und soziale Medien – unterstützt von KI und Bots - Echokammern schaffen, gelten Kompromisse schnell als Charakterschwäche – und demokratische Prozesse als langweilige Fussnote im Strom der Empörung.

Die Versuchung ist gross, lieber zu unterhalten als zu erklären.
Panem et circenses, sagten schon die alten Römer – heute serviert man das Brot als Content-Häppchen, und die Spiele laufen als Livestream.

Der Applaus kommt in Echtzeit – doch die Aufklärung lässt sich Zeit.

In meiner Ausbildung als Arzt habe ich mich mit dem Funktionieren des Menschen befasst.

Die Bedürfnispyramide von Maslow zeigt: Wenn das Brot verteilt ist, beginnt die Suche nach Sinn.
In unseren westlichen Gesellschaften rücken heute Fragen der Selbstverwirklichung in den Vordergrund. Es ist kein egoistischer Luxus, sondern Ausdruck einer reifen Gemeinschaft – zumindest meistens.

Das Brot ist längst verteilt – geblieben ist der Hunger nach Bedeutung.

Gleichzeitig mahnen Historiker: Zivilisationen scheitern nicht am Mangel an Brot – sondern am Verlust einer gemeinsamen Vorstellung davon, wofür es sich lohnt, gemeinsam am Tisch zu sitzen.

Doch mitten in dieser Suche – die nach dem Fall der Berliner Mauer so richtig Fahrt aufnahm – wurden wir von einer tektonischen Verschiebung überrascht:
Der Krieg ist zurück in Europa.

Ja, die Geschichte verabschiedet sich nicht – sie macht nur gelegentlich eine Pause.

Wir hatten die «Fukuyama’sche» Verheissung vom Ende der Geschichte nur allzu gern geglaubt.
Vielleicht wollten wir vergessen, dass jedes vermeintliche Ende auch ein Anfang ist.

Was wie ein Abschluss erschien, war in Wahrheit der Auftakt zu einer neuen Epoche – einer, in der Sicherheit fragil, Demokratie gefordert und Freiheit keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

Oft habe ich den Eindruck, dass wir noch immer in der Märchenwelt des Zuschauers leben – als könnten wir einfach nur zuschauen, ein wenig staunen, unserer Empörung freien Lauf lassen und dann zur Tagesordnung übergehen.

Geschätzte Damen und Herren

Vertrauen entsteht dort, wo Kontrolle glaubwürdig ist – das habe ich vorhin gesagt.
Das gilt nicht nur für die Medien, sondern ebenso für den Multilateralismus.

Denn was geschieht, wenn ausgerechnet jene, die Kontrolle ausüben sollten – etwa die fünf Ständigen im UNO-Sicherheitsrat – dazu nicht mehr fähig oder willens sind?
Wenn sie so sehr in ihre eigenen geopolitischen Konflikte verstrickt sind, dass die Kontrolle auf der Strecke bleibt?

Dann fehlt sie eben: die Kontrolle.
Und ohne Kontrolle – kein Vertrauen.
Was bleibt, ist ein Vakuum.

Und Vakuum zieht Macht an – nicht Verantwortung.

Rechtsstaatliche Institutionen werden unter dem Banner der Demokratie geschwächt und demokratische Rechte im Namen der herrschenden Ideologie eingeschränkt.
Was bleibt, ist eine «Demokratie light» - ohne Substanz.
Oder ein Rechtstaat ohne Rückhalt.

Die Schweiz bleibt davon nicht unberührt.

Die Vorstellung, der Weltuntergang treffe uns mit zehn Jahren Verspätung, mag charmant wirken – als Sinnbild unserer Stabilität, als Echo des Traums von der «Insel der Glückseligen».

Doch dieses Bonmot darf nicht zur Beruhigungspille werden in einer Welt, die sich tektonisch verschiebt.

Wenn Fakten relativiert, Institutionen gezielt geschwächt und der Watchdog seiner inneren Spürnase beraubt wird, gerät auch unser Modell ins Wanken.

Was tun? Der Philosoph Karl Popper sagte: «Ich bin kein Optimist. Aber ich halte Optimismus für eine Pflicht».

Optimismus also nicht als Gefühl, sondern als ethische Entscheidung, als Voraussetzung für Handeln in einer offenen Gesellschaft.

Und so sehr ich Alt-Bundeskanzler Walter Thurnherr recht gebe, wenn er festhält: «Der Weltuntergang wurde schon oft angekündigt, ist aber selten eingetroffen» – so wenig dürfen wir uns auf Wahrscheinlichkeiten verlassen. Denn was selten eintritt, kann dennoch tiefgreifend sein.

Optimismus darf also nicht naiv sein. Immer mehr Entscheidungen, die uns betreffen, fallen heute anderswo.

Optimismus muss sich gründen in einer klaren Haltung, in der Bereitschaft zur Selbstkritik und in der Verteidigung jener Werte, die uns tragen: Freiheit, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit.

Geschätzte Damen und Herren

Demokratien brauchen keine perfekten Institutionen, aber sie brauchen glaubwürdige, reflektierte, selbstkritische und manchmal auch selbstironische Stimmen – im Parlament, in der Regierung, in den Medien.

Um das Bild vom Anfang nochmals aufzunehmen: Einen guten Hund erkennt man nicht daran, dass er nie bellt – sondern daran, dass man ihm glauben kann, wenn er es tut.

Worte schaffen Realität – besonders, wenn sie von Menschen wie Ihnen sorgfältig gewählt und verbreitet werden.

Wer die Macht des Wortes besitzt, kann Klarheit schaffen – oder Nebel stiften.

Wer spricht, greift ein. Und wer gehört wird, trägt Verantwortung: für das, was gesagt wird, für das, was mitschwingt, und für das, was bewusst verschwiegen bleibt.

In einer Zeit, in der jedes Wort sofort weitergetragen, zitiert, instrumentalisiert werden kann, ist Schweigen kein Rückzug – es ist eine Wahl.

Geschätzte Zuhörerinnen und Zuhörer

Erlauben Sie mir zum Schluss zurückzukommen auf eine meiner grössten Sorgen: die schwindende Zustimmung zur Demokratie – selbst in gefestigten Systemen.

Die politische Urteilskraft der Bürgerinnen und Bürger zu stärken – das ist Ihre zentrale Aufgabe: informieren, einordnen, kontrollieren. Alle drei Funktionen sind unverzichtbar.

Sie sind die Hüter der Urteilskraft – jenes inneren Kompasses, den eine direkte Demokratie dringender denn je braucht.

Am Anfang war das Wort – aber am Ende zählt, was daraus wird.

Ich danke Ihnen!